COA-Aktionswoche - Interview mit einer Betroffenen
Interview
22-jährige Tochter eines alkoholkranken Vaters
Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass dein Vater Suchtmittel konsumiert?
Das war so mit 14. Ich weiß auch nicht, wie lange das vorher schon ging. Aber mit 14 ist es aufgefallen. Also so lange war es vermutlich nicht, weil er das nicht lange geheim halten konnte. Weil er sehr viel getrunken hat, von Anfang an. Aber, ja, also ein paar Monate ging das sicherlich.
Und an was hast du es gemerkt?
Also es war so ein Tag, bevor ich es wirklich bemerkt habe, ist er abends in der Küche auf dem Stuhl eingeschlafen. Also so falsch rum, so auf der Lehne. Und da haben wir noch drüber gelacht. Und er meinte, er ist so müde wegen der Arbeit, und er hat eine Ibu genommen, weil er so Rückenschmerzen hat. Und, ja, am nächsten Tag saß ich dann in meinem Zimmer, habe Hausaufgaben gemacht. Und dann habe ich einen Knall im Flur gehört und bin rausgekommen. Und dann lag er auf dem Boden. Und da habe ich auch gar nicht richtig verstanden, was überhaupt los ist, habe noch versucht, ihn anzusprechen. Und er hat nur so gestöhnt, würde ich sagen. Meine Oma war zu der Zeit noch im Haus. Dann bin ich zu ihr gelaufen, habe gesagt, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt. Ich wusste, dass er vorher schon mal ein Suchtproblem hatte. Er war aber 12, 13 Jahre trocken.
Und, ja, meine Oma meinte dann direkt, ja, der hat bestimmt wieder getrunken. Weil sie kannte ihn ja so. Und als wir dann in den Flur gegangen sind, hat er sich schon so ins Schlafzimmer reingeschoben, auf dem Boden. Und hat dann die Tür zugetreten. Dass wir auch nicht rein konnten. Hat dann auch nicht mehr geantwortet. Meine Oma hat dann auch noch gesagt, dass sie jetzt den Krankenwagen anruft. Weil es hätte ja auch was anderes sein können. - Dann kam aber meine Mama nach Hause. Und bis sie dann im Haus war, hat er sich ins Bett gelegt und hat auch dann nicht mehr reagiert, hat dann geschlafen. Und sie hatte dann auch direkt den Verdacht. Und wir sind dann in den Keller gegangen und haben so kleine Wodkaflaschen überall gefunden und leere Weinflaschen, die vorher nicht da waren. Und, das sind die kleinen, die man so an der Tankstelle kaufen kann.
Und das heißt, er ist dann auch gar nicht ins Krankenhaus gebracht worden, sondern deine Mutter hat ihn den Rausch ausschlafen lassen?
Ja. Also weil er sich selber noch ins Bett legen konnte und sie wusste, dass wahrscheinlich eher nichts passiert, weil sie ihn auch so kennt, hat er dann einfach geschlafen. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie das danach war. Also ich denke mir, die haben sich da gestritten. Ich habe an dem Tag nicht mehr mit ihm geredet.
Also, dir ist vor allem diese Szene in Erinnerung und das, was danach kam, eher so verwaschen?
Weil ich mich da auch zurückgezogen habe, weil ich auch in dem Moment gar nicht wusste, was ist überhaupt los. Bleibt das jetzt so? Wird das jetzt zu einem Problem? Und ja, habe dann erst mal meine Mama das so regeln lassen.
Kannst du auch gefühlsmäßig so beschreiben, wie es dir ging?
Es hat mich total geschockt, weil ich noch nie irgendjemanden in dem Zustand gesehen habe und schon gar nicht meinen Vater. - Man hat die Monate vorher (schon) gemerkt, dass er angespannt war, dass es ihm auch teilweise nicht gutging. Wir haben eher gedacht, dass er eine depressive Verstimmung hat oder so, und dass das auch wieder was wird, weil das war auch öfter so. Er war ein bisschen gereizt auch immer.
Konntest du denn darüber mit deiner Mutter oder mit der Oma sprechen? Oder warst du erst mal so allein gelassen mit deinen Gedanken und Gefühlen?
Am Anfang wollte ich darüber nicht so wirklich reden. Also das war dann auch so, dass mein Papa einen Tag oder zwei Tage später dann auch in mein Zimmer kam, nachdem meine Eltern drüber gesprochen haben. Und er hat quasi mir versichert und versprochen, dass er das nie wieder macht. Ich habe ihm auch gesagt, dass er mir das versprechen muss. Und ich habe auch nicht gewusst, dass das nicht einfach so geht. - Also vor allem, weil er schon mal aufgehört hat zu trinken ohne jegliche Hilfe. Also er war auch nicht in Entzugskliniken oder sonst was. Er hat es einfach gelassen. Meine Mama hat ihm damals quasi ein Ultimatum gestellt, entweder sie geht, oder er hört auf.
Das war, als ich noch klein war. Und dann war ich eben der Ansicht, okay, das funktioniert dieses Mal wahrscheinlich auch so. Aber hat es nicht. Und am Anfang ist bei so was ja auch immer sehr viel Scham dabei. Wir haben auch in der Familie nicht viel drüber geredet. Das kam dann stückweise einfach bei jedem dann raus. Weil er es auch nicht mehr kontrollieren konnte, wann er trinkt und wo. Das war auch immer so … Also es gab kein: ich trinke jetzt ein Bier und lege mich schlafen oder ich mach noch irgendwas im Garten oder ich schau noch Fernsehen -, es war wirklich immer so: ich trinke jetzt zwei, drei Flaschen Wodka und bin dann weg.
Was würdest du sagen, wie oft ist das vorgekommen?
Das wurde immer häufiger. Ich weiß nicht genau, wie viel das jetzt am Anfang war. Aber es hat sich rasant gesteigert. Und irgendwann war es jeden Tag so. Auch mehrmals am Tag, dass er dann morgens früh weggefahren ist, sich Alkohol gekauft hat, seinen Rausch ausgeschlafen hat, wieder weggefahren … Und immer so weiter.
Er hat ja am Anfang noch gearbeitet?
Ja, genau. Also auf der Arbeit hat er das nicht getan, am Anfang. Das hat alles gut funktioniert. Ja, haben wir uns auch gefragt, wie das sein kann. Und er hat auch mit Chemikalien gearbeitet. Und da war auch immer dann die Angst da, dass da was schiefgeht. Und er hatte auch die Schichtleitung dort. Und die wurde ihm dann aber auch nach einer Weile entzogen deswegen. Weil er auch nicht mehr so zuverlässig war. Und dann hat er irgendwann auch auf der Arbeit getrunken.
Also es hat (schon) noch lange funktioniert, dass er wirklich auch noch seine Arbeit machen konnte. Nach einer Weile dann nicht mehr. Und dann wurde er auch einmal von dort in den Entzug quasi gebracht, also ins Krankenhaus. Und hat aber dann die Schichtleitung verloren und hat dann nur noch unter Aufsicht gearbeitet. Und damit ist er auch nicht gut klargekommen. Ende 2018 ist er gekündigt worden, weil er nicht mehr hingegangen ist. Er ist da nicht mehr aufgetaucht, auf der Arbeit. - Er hat seit seiner Ausbildung in diesem Betrieb gearbeitet. Und deswegen ist da auch nicht viel passiert. Er hatte wirklich gute Kollegen, die dann auch auf ihn geachtet haben. Im Nachhinein denke ich mir, sie hätten ihn wahrscheinlich besser rausgeworfen. Wäre für alle sicherer gewesen und für ihn hätte es vielleicht zum Aufwachen geführt.
Das heißt, du siehst das im Nachgang auch kritisch, dass er da so lange so mitgeschleppt oder mitgetragen wurde?
Ja. Das war aber zu Hause auch nicht großartig anders. Also, meine Mama war ja auch sehr lange dann noch mit ihm zusammen und hat das ja auch mehr oder weniger geduldet, weil sie sich nicht lösen konnte. Es wäre für uns alle gesünder gewesen, wenn sie sich einfach getrennt hätten, wenn sie früher einen Schlussstrich gezogen hätte. Ob es für ihn anders ausgegangen wäre, weiß ich nicht. Aber es wäre jedenfalls für meine Mama und auch für mich besser gewesen. - Also ich hätte normal in die Schule gehen können und hätte mich nicht um die Sachen kümmern müssen. So ging das nicht. Es war jeden Tag irgendein anderer Stress. Und ich habe mich auch nicht mehr zu Hause gefühlt dort. Und es hat sie auch sehr belastet. Und das ist dann auch öfter mal an mir hängengeblieben.
Was war mit der Schule?
Ich habe sehr viel gefehlt. Ich habe sehr wenig geschlafen nachts, habe dann auch nicht so die Aufmerksamkeitsspanne und einige Probleme, die ich hatte, sind dann einfach liegengeblieben. Da hat sich keiner mehr drum gekümmert. Das war in der Zeit etwas schwierig. Vor allem, weil man dann auch sieht, okay, bei den Mitschülern läuft das gerade ganz anders. - Also zum Beispiel ist niemand (von meinen Eltern, C.O.) mehr zum Elternabend gekommen. Auch wenn es um Klassenfahrt oder so ging, musste ich immer hinterherlaufen, könnt ihr mir das bitte ausfüllen. Irgendwann hat auch niemand mehr Arbeiten unterschrieben. Also es hat sich generell niemand für meine schulischen Leistungen interessiert. Ich bin in manchen Fächern dann sehr schlecht geworden. Also zum Beispiel Mathe und Spanisch. Deswegen habe ich auch ein Jahr wiederholt. Ich habe dann ja trotzdem mein Fachabi gemacht und war dann am Ende auch okay. Aber es hätte mit Sicherheit besser sein können.
Gibt es denn noch weitere Schlüsselmomente, die mit dem Konsum deines Vaters in Zusammenhang standen?
Es wurde immer schlimmer. Also anfangs konnte man auch noch normal miteinander reden. Es gab auch Phasen, wo dann alles normal war, wo man dann auch noch zusammen gelacht hat und Dinge zusammen unternommen hat. Wir waren auch noch einmal zusammen im Urlaub. Und das ging ab einem gewissen Punkt aber gar nicht mehr. Er hat dann auch irgendwann angefangen zu trinken, bevor er Auto gefahren ist. Und er war zwischendurch auch öfter im Entzug. Man konnte ihn auch nicht aufhalten, was das angeht. Meine Mama hat das auch lange mit der Kontrolle versucht und ist dann überall mit ihm hingefahren oder sie ist selbst gefahren, wenn er nicht fahren konnte. Sie hat mich auch mit zur Tankstelle geschickt, dass er sich dort nichts zu trinken kaufen soll. Einmal hat er sich die Wodkaflaschen dann unter die Achseln gesteckt, bis er im Auto war. Also zu Hause ist das dann natürlich trotzdem aufgefallen. Da habe ich ihm dann aber auch gesagt, dass ich nicht mehr mit ihm mitfahren werde. Und auch meiner Mama. Ich fand das damals ganz schlimm, dass das so zu meiner Aufgabe auch ein bisschen wurde - ihn da so zu kontrollieren. Und es hat auch nichts gebracht. Dann war er einmal in Kur, 26 Wochen. - Ist zurückgekommen. Zwei Tage später hat er mich betrunken von der Schule abgeholt.
Einmal war meine Oma im Krankenhaus. Da musste ich dann noch mal mit ihm fahren, weil wir die abholen mussten. Und da hat er auch vorher was getrunken. Das ist aber dann erst aufgefallen, als wir dort waren. Also muss er das auch ein paar Minuten, bevor wir losgefahren sind, erst gemacht haben. Und dann hat er angefangen, auf der Station die Krankenschwestern anzuschreien, weil es ihm zu lange gedauert hat mit der Entlassung. Und dann habe ich ihn von dort heimgeschickt und hab dann die Stunde mit meiner Oma gewartet, bis ihre Schwester uns abgeholt hat. Und er hat dann zu Hause einen Riesenstreit mit meiner Mutter angefangen und hat dann dort auch rumgeschrien, was für eine schlechte Tochter ich bin. All das. - Für ihn war er normal. Er hat das in den Momenten gar nicht realisiert.
Gab es denn zwischendurch auch manchmal noch helle Momente, in denen er was realisiert hat?
Am Ende gar nicht mehr. Es wurde immer schlimmer. Er hat auch ein Auto kaputtgefahren, Totalschaden, wo er gegen eine Leitplanke gefahren ist und gegen einen Pfosten. Das stand dann einen Tag lang bei uns im Hof, und er hat es gar niemandem gesagt, weil er sich nicht getraut hat. - Und da hat meine Mama dann auch gesagt, so, noch einmal, und ich rufe die Polizei - wenn er sich ins Auto setzt. Dazu ist es allerdings nicht gekommen.
Ich selbst habe einmal die Polizei gerufen. Weil er im Haus rumrandaliert hat. Und hat meine Mama auch gegen die Tür geschubst. Sie meinte dann, dass ich die Polizei rufen soll. Habe ich dann auch gemacht. Ich denke, dass man das auch anders hätte lösen können. Weil die beiden sich gegenseitig sehr provoziert haben. Aber ja, die kamen dann auch. Und dann wurde nur gesagt: Ausnüchterungszelle kostet 200, 300 Euro die Nacht, Hotel kostet 90 Euro die Nacht. Dann haben sie ihn in ein Hotel gebracht. Und er ist dann morgens um 5 Uhr wieder betrunken bei uns aufgetaucht und hat sich …, also die Knie und das Gesicht komplett zerfallen, weil er im Wald gestürzt ist, auf dem Rückweg nach Hause.
Das ist auch öfter passiert, dass er irgendwo gefallen ist und dann Platzwunden hatte. Und das ist ihm dann meistens gar nicht aufgefallen. War irgendwo …, im Flur war dann Blut. Und dann ist man schauen gegangen. Und dann lag er mit einer Riesenplatzwunde im Bett.
Wie erklärst du dir diese rasante Entwicklung deines Vaters?
Ich glaube, er war einfach von allem sehr gestresst. Und er hätte früher schon Schritte einleiten müssen. Er hätte in Therapie gehen müssen. Ich denke auch, meine Eltern hätten sich einfach vorher trennen sollen, weil die beiden einfach nicht mehr glücklich zusammen waren. Und dann wäre das vielleicht auch anders gewesen. Aber seine Eltern hatten auch Suchtprobleme. Beide. Sein Papa ist gestorben, als er 15 war. Und seine Mama hat danach dann auch getrunken. Und er hat den Umgang (mit Alkohol, C.O.) nie gelernt. Und er hat auch nie gelernt, dass man sich dann Hilfe sucht.
Wie ist es weitergegangen? Er war dann in Langzeitentwöhnung?
In der Zwischenzeit hat er dann auch eine Beziehung mit einer Frau angefangen, die auch mit ihm in Kur war. Und da war er irgendwie eine Woche verschwunden. Und wir wussten nicht, wo er ist. Und wir haben auch kein Lebenszeichen von ihm gehabt. Er ist nicht an sein Handy gegangen. Und dann habe ich ihm gesagt, als er dann wieder aufgetaucht ist, dass wir wirklich eine Woche lang Angst hatten, dass er irgendwo in einem Graben liegt, dass das so nicht geht. Und dass ich Angst um ihn habe. Und dass wir ja nur wollen, dass es ihm gutgeht. Und wenn er lieber eine andere Beziehung führt und auszieht oder sich einen anderen Job sucht, dass das auch okay ist. Dass ich einfach nur will, dass es ihm gutgeht. Und wir haben auch noch mal drüber geredet, ob er denn nicht noch einen Entzug machen will. Irgendwann hat er auch zugestimmt. Und wir haben - glaube ich - drei Stunden miteinander geredet. Und danach hat er mich gefragt, ob ich ihm Geld leihen kann, damit er noch mal zur Tankstelle fahren kann und sich was kaufen kann.
Das ist absurd.
Ja, da war es auch schon vorbei. Da gab es nur noch das in seinem Leben. Nix anderes. Da hat er auch schon einen starken Leberschaden gehabt. Also da hätte auch nichts mehr geholfen. Also er ist auch gestorben daran. Und anderthalb Jahre vorher wurde ihm das diagnostiziert im Krankenhaus. Und er hat nichts gesagt und auch nichts dagegen getan.
Wie waren deine Reaktionen als Kind, als Jugendliche auf die situation zu Hause?
In der Zeit habe ich mich sehr, sehr oft sehr leer gefühlt. Auch depressiv. Mir ging es gar nicht gut. Ich wollte eigentlich nur weg. Aber ich konnte auch nicht weg. Auch immer, wenn ich irgendwo dann mal war, mit Freunden unterwegs oder so, kam dann immer eine Nachricht, entweder von meiner Mama oder von meinem Papa, das ist gerade passiert, oder: wenn du nach Hause kommst, erschrick dich nicht, weil …, keine Ahnung, er liegt im Flur oder so. Wo sie ihn dann auch nicht mehr aufheben konnte. Und ja, teilweise hab ich dann die Haustür aufgemacht und direkt den Schuh getroffen. Wenn ich dann als Erstes nach Hause kam und meine Mama noch gearbeitet hat. Wenn es nicht anders ging, habe ich ihm dann manchmal ein Kissen hingelegt.
Du musstest auch sonst sehr viel regeln als Jugendliche?
Das mit den ganzen Formularen und so hat angefangen, als ich mit 16 auch mal eine Weile ausziehen wollte und da dann ja auch Kontakt hatte mit dem Jugendamt. Und ich habe mir eine Wohngruppe angeschaut. Ich glaube, da hat meine Mama dann auch verstanden, okay, es ist ernst. Weil in der Zeit davor hat sie sich nicht viel darum gekümmert, wie es mir geht. Aber sie konnte das auch nicht. - Also, ich habe mich dann doch entschieden zu bleiben, weil ich es nicht mit mir selbst vereinbaren konnte. Und weil ich dort dann in anderen Dingen sehr eingeschränkt gewesen wäre, die ich zu Hause als Freiheiten hatte. Also zum Beispiel, wenn ich nachts erst um 1 Uhr nach Hause wollte von irgendeiner Freundin, konnte ich nachts auch erst um 1 Uhr zu Hause sein. Das hat meine Mama da nicht interessiert. Ich habe auch nichts gemacht, was irgendwie besorgniserregend war. Deswegen war das auch okay. Aber das wäre dann in der Wohngruppe nicht mehr gegangen. Und, ja, die Schuldgefühle waren dann gegenüber meiner Mama und meiner Oma, die auch noch in unserem Haus gewohnt hat, so groß, dass ich mich dagegen entschieden habe.
Und danach, nach einer Weile ist mein Vater dann auch ausgezogen in ein anderes Bundesland, mit einer neuen Freundin zusammen, die auch ein Suchtproblem hatte. Und wir haben dann angefangen, nach Möglichkeiten zu schauen, wie wir unser Haus finanzieren können, weil meine Eltern Schulden hatten. Und da war ich dann auch viel auf dem Amt, beim Jobcenter. Und habe mich auch darum gekümmert. Weil eigentlich wäre der Plan gewesen, dass ich mit 18 direkt allein in eine Wohnung ziehe. Ja, da mein Papa dann aber ein Jahr später gestorben ist, kam das noch mal anders. Und wir haben dann entschieden, dass wir doch weiterhin zusammenwohnen. Ja, wir wohnen in getrennten Wohnungen, aber trotzdem im selben Haus. In einer Wohnung würde das nicht funktionieren.
Gab es denn jemanden, mit dem du über alles gesprochen hast? Hast du ein Angebot wahrgenommen, wo du darüber sprechen konntest?
Ja, ich war bei der Caritas (Angebot Wiesel). Ich war tatsächlich, bevor das alles passiert ist, auch schon in einer Therapie. Weil ich generell so Probleme mit Depressionen hatte. Und die Therapeutin war aber mit dem ganzen Suchtthema sehr überfordert und hat mich deswegen an die Caritas verwiesen. Ich war ja dann hier auch in Einzelgesprächen. Und das hat auch sehr geholfen. Und es war gut, einen Ansprechpartner zu haben, der nicht in der Familie ist oder das alles tagtäglich miterlebt. Weil manchmal war es dann so - wenn ich hierhergekommen bin, ist mir erst aufgefallen, okay, das war eine verdammt beschissene Aktion. Und das hätte ich wahrscheinlich anders gar nicht realisiert, weil ich da so dringesteckt habe. - Und (in der Gruppe, C.O.) hat es mir dann auch gezeigt, okay, es gibt noch mehrere Leute da draußen, denen geht es auch so. Es gibt so viele Familien, in denen das so ist, weil das auch immer sehr verschwiegen wird.
Hat dein Elternteil, also dein Vater, auch Hilfe in Anspruch genommen?
Also mein Papa war auch bei der Caritas, hat das Ganze aber nicht ernstgenommen. Es war wirklich eher ein Zwang für ihn, dass er hierherkommt. Aus der Verzweiflung heraus kamen schon so Momente, wo er dann selbst Hilfe wollte. Aber die haben wegen dem erneuten Konsum dann auch nicht lange angehalten. Und dann war das immer so: okay, hier ist ein Hilfsangebot, das haben wir dir rausgesucht, geh da bitte hin. Manchmal ist er gegangen, manchmal nicht. Er war - ich glaube - insgesamt in vier Entzugskliniken. - Das Problem war, dass er dort den Mitpatienten immer gefallen wollte und auch seinen Therapeuten gegenüber nicht ehrlich war. Er wollte eben ein Bild aufrechterhalten von sich selbst, das andere bewundern können und gut finden, weil er sich selber nicht eingestehen konnte, dass er an einem Punkt ist, an dem er die Hilfe benötigt hätte, an dem er da nicht mehr alleine rauskommt. - Und deswegen hat er das nie ernsthaft durchgezogen. - Der Wunsch, eine Fassade aufrechtzuerhalten, der war sehr groß. Ich glaube, das ist ihm auch aus seinem Elternhaus so mitgegeben worden.
Wir waren mit unserer Familie auch sehr ehrlich darüber, was so passiert ist. Und das war für ihn auch sehr schlimm: Dass alle (im weiteren Familien- und auch Freundeskreis) Bescheid wussten, dass er dieses Problem hatte. - Er hat dann über seinen Job geprahlt, hat dann auch Lügen erzählt. Auch über uns Lügen, also über meine Mama und mich Lügen erzählt. Einmal hat er einer Freundin von sich erzählt, dass ich Medizin studieren würde und irgendein krasses Auto fahre. Und da war ich 16. Da bin ich weder Auto gefahren noch habe ich irgendwas studiert. Also ich glaube, er hat sich so ein bisschen das Leben ausgemalt, das er gerne gehabt hätte und hat das dann auch so weitererzählt. Auch von irgendwelchen Reisen, die er gemacht hätte. Aber das hat alles nicht gestimmt.
Wie würdest du die Beziehung zwischen Dir und Deinem Vater beschreiben? Was glaubst du, wie er dich gesehen oder wahrgenommen hat?
Das ist schwierig, mir das vorzustellen. Ich weiß auch gar nicht, was er überhaupt wahrgenommen hat in den letzten Jahren. Ich glaube, er hat sich eine Beziehung zu mir gewünscht, auch eine gute Beziehung. Aber es war nichts, was er oder ich hätte erfüllen können. Ich war auch sehr lange sehr wütend auf ihn. Er hat das auch gewusst. Ich habe sehr oft mit ihm gestritten in der Zeit und habe versucht, ihn irgendwie wachzurütteln, obwohl das weder meine Aufgabe war noch irgendwas, was ich hätte tun können. Und am Ende seines Lebens war er auch eine Weile obdachlos. Weil das mit seiner Freundin dann nicht mehr funktioniert hat. Und da sah er auch richtig schlimm aus. Man hat auch gesehen, dass er sehr krank ist. Er hatte ein ganz aufgeschwollenes Gesicht, gelbe Augen. Er hat furchtbar alt ausgesehen, hat ausgesehen, als wäre er 20 Jahre gealtert in den anderthalb Jahren, in denen ich ihn dann nicht gesehen habe.
Und da hatte ich dann auch Mitleid mit ihm. Und da kam dann auch erst so die Sicht: so, okay, er wollte das nicht. Und er hat das auch nicht gemacht, um mein Leben zu ruinieren. Und er wollte auch nicht sein Leben damit ruinieren. Aber er konnte es nicht anders. Und, ja, zu dem Zeitpunkt war es aber zu spät. Da ist er dann auch wieder hierhergezogen. Und ich glaube, er war dann noch drei Monate da. Also ist nicht in unser Haus gezogen, sondern in eine eigene Wohnung. Da habe ich ihn aber auch nicht oft gesehen. Also im letzten Monat war er auch wirklich so im Delirium. Er hat Sachen gesehen, die nicht da waren. Er hat meiner Mama gesagt, dass er nicht will, dass ich ihn besuche, weil im Flur würden die Mitbewohner, also die Leute, die auch in dem Haus wohnen, aufeinander schießen. Solche Dinge. Er konnte dann auch irgendwann nichts mehr an Essen bei sich behalten. Und seine Toleranz war dann auch irgendwann runter. Er hat dann nur noch Wein getrunken.
Dann habe ich ihn am Vatertag noch einmal gesehen. Ich habe ihm auch einen Brief geschrieben, in dem ich ihm dann noch mal alles gesagt habe, was ich ihm so sagen wollte, habe ihm gesagt, dass ich ihm verzeihe und dass ich mir einfach nur wünsche, dass sein Leben gut ist. Auch wenn mir bewusst war in dem Moment, dass es wahrscheinlich nie wieder so werden kann. Und dass ich nicht mehr wütend bin. Und habe ihm ein bisschen von mir erzählt, was ich so mache. Weil ich wusste: das interessiert ihn schon. Aber er konnte es nicht mehr zeigen. Und das war auch das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Einen Monat später war er dann gestorben. - Und die Nachricht wurde uns dann auch von der Polizei erst drei Tage später überbracht.
Hast Du noch eine Reaktion Deines Vaters auf Deinen Brief erhalten?
Nein. Also er hat mit meiner Mama drüber geredet und hat gemeint, dass er sich drüber gefreut hat und dass er ihn gelesen hat. Und das war eigentlich auch alles, was ich dann so wissen musste. Weil ein klärendes Gespräch wäre zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr zustande gekommen, nicht mehr möglich gewesen. Da war er schon sehr verwirrt.
Welche Gefühle verbindest du mit früher und mit heute?
Ab irgendeinem Punkt ist aufgefallen, dass weder Mitgefühl und Verständnis noch Ärger und Wut was bringt, weil es einfach zu spät war. Er wollte und konnte da nicht raus. Und wir konnten ihm auch nicht helfen. Und es war sehr schwer zu realisieren, dass man ihm nicht helfen kann. Egal was man macht. Irgendwann war es auch wichtig, den Eigenschutz ernst zu nehmen und sich dann zu entfernen. Und wenn man zusammenwohnt, auf engem Raum, ist das sehr schwierig.
Er war dann auch ein ganz anderer Mensch. Das war nicht zu vergleichen mit vorher. Also er hat früher auch viel gearbeitet und war auch an Feiertagen und oft dann auch erst abends da. Also wir haben nicht sonderlich viel Zeit als Familie irgendwie verbracht. Wir waren einfach früher dann auch mal schwimmen. Oder in den Sommerferien hat er dann immer drei Wochen frei gehabt. Und da waren wir Fahrradfahren und haben mal einen Film zusammen geschaut. Und so eine der Lieblingserinnerungen mit meinem Papa ist, als wir dann … Im August gibt es ja immer so Nächte, wo es viele Sternschnuppen gibt. Und da haben wir dann immer im Garten gesessen und haben uns dann zusammen die Sternschnuppen angeschaut. Und wenn ich eine nicht gesehen habe, hat er mir sie quasi geschenkt, also seinen Wunsch. Das fand ich sehr süß damals. - Die schönen Erinnerungen gibt es natürlich auch noch. Aber die sind für mich … Also mittlerweile sehe ich das nicht mehr so. Aber damals war es wirklich ein anderer Mensch für mich. Das konnte ich nicht vereinen.
Wie ist deine heutige persönliche Einstellung zu Suchtmitteln?
Also höchstens Genuss. Und, ja, eher Ablehnung. Ich trinke manchmal - aber nur auf Partys oder so. Und auch nicht viel. Während das mit meinem Papa war, habe ich auch nichts getrunken. Ich habe das erste Mal was getrunken, als ich 19 war. Und das war dann auch nur ein Glas Sekt. Und dann habe ich Leute kennengelernt, die einen gesunden Umgang damit haben. Und habe gesehen, dass man das im sozialen Setting schon mal machen kann.
Inwiefern hat dich diese ganze Sozialisation mit Deinen beiden Eltern geprägt?
Also hauptsächlich hat mir das einen sehr großen Teil von meiner Jugend genommen und versaut. Und in einer Phase, in der andere Leute dann Spaß hatten und sich auch über ihre Zukunft Gedanken gemacht haben, konnte ich immer nur an meine Eltern denken und an deren Zukunft. Und das hat mich in meiner Selbstfindung schon ein bisschen zurückgeworfen. Ich bin dadurch mit Sicherheit auch selbständiger geworden. Aber ich sehe das jetzt nicht unbedingt als was Positives. Also ich mag das auch nicht, wenn Leute sagen, so, dass man da mit so einer Stärke rausgegangen ist. Weil ich glaube, ich wäre sehr viel stärker, wenn das alles nicht passiert wäre.
Ja, und es ist immer noch ein Riesenpunkt in meinem Leben, den ich auch nicht einfach vergessen kann. Und natürlich macht das dann auch was mit der Psyche. Und ich muss dann in eigenen Beziehungen auch darauf achten, dass ich nicht irgendwie die Rolle von meiner Mutter annehme und mir jemanden suche, der ist wie mein Papa. Das ist auch so eine große Angst von mir. Und das hat auch Bindungsängste ausgelöst, zum Beispiel. - Also ich mache mir jetzt nicht so Gedanken, dass ich selbst ein Suchtproblem entwickle, einfach weil ich eine große Ablehnung dagegen habe und ja auch gesehen habe, es geht anders. Und meine Mama hat ja auch nie Probleme in die Richtung gehabt. Aber ich mache mir schon Gedanken, dass ich vielleicht auch mal in eine Rolle verfalle, wie sie auch.
Im Moment ist das ja nicht so, oder?
Ich gehe aber mit so einer Angst durchs Leben. Und ich habe dann zum Beispiel das Bedürfnis, irgendwie auch den Konsum von anderen Leuten so im Auge zu behalten und zu kontrollieren. So wenn ich sehe, okay, das könnte jetzt ein Glas zu viel sein, habe ich direkt so Panik und habe das Gefühl, ich muss da jetzt einschreiten. Und auch, wenn ich irgendwie Leute auf der Straße sehe. Man erkennt ja auch schnell Anzeichen darauf in anderen Menschen, die auf eine Sucht hindeuten. Vom Aussehen. Vom Verhalten. Und dann habe ich auch immer das Bedürfnis, irgendwas zu tun. Und ich kann es aber nicht. Und es ist ja auch nie erwünscht. -
So Sachen fallen mir dann auf. Und ich finde es schlimm, wenn das andere Leute dann nicht realisieren. Und auch, weil mein Papa eine Zeit lang obdachlos war, habe ich auch da sehr großes Mitgefühl und bin mir bewusst darüber, dass man den Leuten helfen sollte. - Und dann fällt es mir manchmal schwer, wenn man dann irgendwie abends irgendwo unterwegs ist, und dann sitzt jemand auf der Straße und redet mit einem - dann einfach weiterzugehen und … Also anderen Leuten fällt das ja nicht so schwer. Und es ist auch, wenn man mit einer Frauengruppe unterwegs ist, nicht so gut, wenn da ein Mann nachts im Dunkeln auf einen zukommt, dann da irgendwie stehenzubleiben. Das ist dann ja auch oft durch Angst geprägt, dass man nicht mit der Person reden will. Aber das kann ich nicht so gut mit mir vereinbaren. - Aber wenn einem das nicht im persönlichen Umfeld passiert ist, ist es schwierig, sich vorzustellen: die Person hat eine Familie, der Person ging es mal anders, und die Person ist aus Gründen jetzt an dem Punkt, an dem sie ist, und nicht, weil sie das so möchte.
Fühlst du dich heutzutage immer noch in der Vergangenheit verstrickt? Verantwortlich? Vielleicht auch für deine Mutter? Oder eher losgelöst, dein eigenes Leben verfolgend?
Also verantwortlich fühle ich mich jetzt nicht mehr. Ich würde auch sagen, dass ich relativ selbständig lebe. Und, ja, auch nicht immer für sie irgendwie da sein muss oder das auch will. Also das hat bei mir auch ausgelöst, dass ich das teilweise nicht kann oder möchte. Und ich habe jetzt auch einen starken Sinn danach, mir mein eigenes Leben zu verwirklichen und ja, mich da nicht von anderen so leiten zu lassen. Jetzt zum Beispiel, also ich würde mich jetzt von meiner Mama nicht mehr beeinflussen lassen, was jetzt einen Umzug oder so was angehen würde. -
Sie hat auch realisiert, wie das früher so war und dass sie mich sehr eingeschränkt hat. Und dass die beiden mir Sachen abverlangt haben, die sie nicht hätten abverlangen sollen. Und deswegen kommt es jetzt auch selten zu Situationen, in denen ich dann mich zurückziehen muss.
Was ist denn deine Zukunftsvision?
Also ich bin ja noch im Studium. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, würde ich dann auch gerne ein Stück weit wegziehen, vielleicht auch in die Nähe von einer größeren Stadt, damit ich dort auch eine Stelle haben kann, die ich will. Weil hier gibt es in der Medienbranche zum Beispiel nicht sehr viel Auswahl. Alles Weitere weiß ich noch nicht so genau. Ich habe einen relativ großen Freundeskreis mittlerweile, der auch nicht an einem Ort wohnt. Ich reise gern. Ich habe einen Hund, der ist mir auch wichtig. Ich weiß nicht, wie ich mir so den Rest von meinem Leben konkret vorstelle.
Und was würdest du dir so vorstellen, wenn das jetzt alles nicht gewesen wäre? Also wie würdest du dir dich selbst vorstellen heutzutage?
Ich finde es sehr schwierig, mir das vorzustellen. Das war … Also auch, wenn das in einer kurzen Zeitspanne passiert ist, waren das ja sehr prägende Jahre. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es anders sich entwickelt hätte. Das hat so viel beeinflusst in meinem Leben, dass ich keine Ahnung habe, wie es anders gelaufen wäre.